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Fratzschers Verteilungsfragen
Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE
Gehört das Bürgergeld abgeschafft?
Es hält vom Arbeiten ab, und vor allem bekommen es Ausländer: Kaum eine Sozialleistung wird aktuell so
heftig diskutiert wie das Bürgergeld. Aber stimmen die Vorwürfe?
Eine Kolumne von Marcel Fratzscher
Wieder einmal ist eine hitzige Debatte zum Bürgergeld entbrannt: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann
will es Arbeitsunwilligen streichen. CSU-Chef Markus Söder beschreibt das Bürgergeld als "großen Fehler der Ampel".
Die AfD hetzt gegen das Bürgergeld, und die Bild-Zeitung skandalisiert die Kosten und die Tatsache, dass fast die
Hälfte der Empfängerinnen und Empfänger Ausländer sind. Daher ist es wichtig, die Fakten offen auf den Tisch zu legen, den Reformbedarf ehrlich anzusprechen und den Populismus falscher Argumente zu entlarven.
Mythos eins: Die wollen ja nicht arbeiten
Zu den Fakten: In Deutschland beziehen knapp 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld zur Abdeckung des Existenzminimums.
Ein erster Mythos ist die Behauptung, dies seien allesamt Menschen, die arbeiten könnten, aber nicht wollen.
Fakt ist, dass 1,8 Millionen, also ein Drittel, davon Kinder und Jugendliche sind. Hinzukommen mehr als zwei
Millionen Menschen, die dem Arbeitsmarkt nicht für (weitere) Arbeit zur Verfügung stehen. Darunter befinden
sich knapp 800.000 sogenannte Aufstocker, also Menschen, die sehr wohl arbeiten, aber mit ihrer Arbeit so wenig Einkommen erzielen, dass sie zusätzliches Geld vom Staat benötigen. Dazu zählen auch Menschen wie
Alleinerziehende, die Sorgearbeit und Beruf nicht unter einen Hut bekommen können, weil es beispielsweise an Betreuungsplätzen für ihre Kinder fehlt.
Von den 5,5 Millionen Empfängern bleiben also 1,7 Millionen Menschen, die arbeitslos sind und prinzipiell
arbeiten könnten. Ohne Zweifel ein erhebliches Potenzial für den Arbeitsmarkt. Die Kritiker haben also einen
wichtigen Punkt, wenn sie einfordern, dass der Staat dieses Potenzial besser heben muss – zugunsten von
Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Betroffenen selbst.
Aber auch von diesen 1, 7 Millionen verweigert nur eine kleine Minderheit die Arbeit. Für die große Mehrheit liegt
das Problem anderswo: Knapp zwei Drittel dieser Menschen haben keinen Berufsabschluss, in vielen Fällen noch
nicht einmal eine Schulausbildung, und die meisten haben gesundheitliche Probleme. Mit keiner noch so guten Unterstützung durch die Jobcenter und mit keiner noch so großen Motivation der Betroffenen kann das Hauptproblem
für deren Integration in den Arbeitsmarkt gelöst werden: Potenzielle Arbeitgeber stellen diese Menschen häufig nicht
ein, weil die Kosten und Risiken zu groß sind. Und wenn Arbeitgeber es doch wagen, dann passiert es allzu häufig,
dass die Betroffenen nach wenigen Monaten wieder in Arbeitslosigkeit und Bürgergeld landen.
Genau hier setzen einige Reformen und Weiterentwicklungen von Hartz IV zum Bürgergeld an: Menschen sollen
nicht per se so schnell wie möglich in irgendeine Arbeit kommen, sondern sie sollen in eine Arbeit kommen, die
ihnen eine realistische und dauerhafte Perspektive bietet. Der sogenannte Vermittlungsvorrang in Arbeit wurde abgeschafft, damit die Betroffenen die Chance haben, sich zu orientieren, zu qualifizieren und eine passende
Arbeit zu suchen. Das ist im Sinne aller: der Betroffenen, der Unternehmen und auch des Sozialstaats.
Mythos zwei: Arbeit lohnt sich nicht
Der Vorwurf lautet: Der Lohnabstand zum Bürgergeld ist nicht groß genug. Selbst hochrangige Politiker wie der
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann werden nicht müde, die Behauptung stets zu wiederholen, Bürgergeldbeziehende hätten am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche als arbeitende Menschen.
Die Behauptung ist schlichtweg falsch, denn auch Menschen mit Niedriglohn stehen Sozialleistungen zu und haben dadurch immer und in jeder Konstellation – von einem Single bis hin zu einer Großfamilie – mehr Geld als Menschen
im Bürgergeld. Dies zeigt eine Studie des ifo Instituts ebenso wie viele andere Studien.
Es lohnt sich, die Höhe des Bürgergelds einmal einzuordnen: Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher leben in Armut.
Sie gehören zu den knapp 13 Millionen Menschen in Deutschland, die unter der Armutsgrenze leben.
Es kann also keine Rede davon sein, dass sie in üppigen und großzügigen Verhältnissen leben.
Große Mehrheit in Kollektivhaftung
Auch die Behauptung, der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeitslohn sei kleiner geworden, ist falsch.
Seit Einführung des Mindestlohn 2015 sind die Einkommen im Niedriglohnbereich sogar etwas schneller angewachsen als die Bezüge im Bürgergeld. Und jeder, der sich mit der Berechnung des Bürgergelds auseinandersetzt, weiß
warum: weil die Berechnung des Bürgergelds an die Lohnentwicklung im Niedriglohnsektor gekoppelt ist.
Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht angemahnt: Es gehört zur Pflicht von Staat und Gesellschaft, alle Menschen mit einem angemessenen Existenzminimum auszustatten.
Mythos drei: Eine große Gruppe verweigert Jobangebote
Um dies klar zu sagen: Es gibt durchaus Menschen, die Sozialbetrug betreiben und Bürgergeld beziehen, aber gleichzeitig Jobangebote ablehnen oder sich Leistungen erschleichen. Dies darf ein Staat nicht akzeptieren, er
muss mit aller Konsequenz des Gesetzes dagegen vorgehen.
Wie auch eine unserer Studien am DIW Berlin zeigt, bewerten Jobcenter-Mitarbieter insbesondere die Sanktionsmöglichkeiten beim Bürgergeld skeptisch. Die Mitwirkungspflichten der Bezieherinnen und Bezieher
sollten verbessert und die Sanktionsmöglichkeiten für Totalverweigerer gestärkt werden – was die Bundesregierung bereits umsetzt. Das fordern übrigens auch Bürgergeldbeziehende selbst.
Fakt ist jedoch auch, dass die Totalverweigerer eine kleine Gruppe sind: Gemessen an den Sanktionen sind das
etwa 16.000 von den 5,5 Millionen Beziehern. Dies sind 16.000 zu viel, aber sie sind mit 0,4 Prozent eben auch
eine verschwindende kleine Minderheit aller Bürgergeldbezieher. Auch daher ist der Populismus gegen Menschen im Bürgergeld so perfide: Es wird eine große Mehrheit in Kollektivhaftung für eine kleine Minderheit genommen und ihre legitimen Bedürfnisse dadurch delegitimiert.
Mythos vier: Vor allem arbeitsunwillige Ausländer erhalten Bürgergeld
Ein weiterer Punkt, der in der Kritik am Bürgergeld gerne angeführt wird, ist die Tatsache, dass heute fast die Hälfte
der Beziehenden aus dem Ausland kommt. Hierzu zählen auch die mehr als 1,1 Millionen ukrainischen Geflüchteten,
die nach Ankunft sofort arbeiten und notfalls Leistungen des Bürgergelds beziehen dürfen.
Laut Bundesregierung bezogen 722.000 Ukrainer im März 2024 Bürgergeld. Mehr als 200.000 davon sind jedoch
Kinder, knapp 320.000 sind in Ausbildung, Schule, Umschulung, Eingliederung in einen Betrieb oder sind Aufstocker. 186.000 ukrainische Geflüchtete gelten als arbeitslos.
Dies ist eine deutlich kleinere Zahl, als häufig kolportiert wird. Man muss sie nicht als negativ bewerten, sondern sollte
in ihr eine Chance sehen: Die große Mehrheit der Geflüchteten möchte arbeiten und sich in Deutschland integrieren.
Es gibt ein großes Potenzial für den Arbeitsmarkt, wenn durch den Abbau der vielen Hürden – von der Anerkennung
von Qualifizierungen, über rechtliche Hürden und Wohnsitzauflagen bis hin zu Sprachkenntnissen – Geflüchtete
schneller in Arbeit kommen. Es gibt viele Erfolgsgeschichten:
So sind beispielsweise 86 Prozent der zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland geflüchteten Männer (PDF) heute
in Beschäftigung– dies ist eine höhere Quote als im restlichen Teil in Deutschland: Die Erwerbstätigenquote der männlichen Bevölkerung zwischen 18 bis 64 Jahren lag im vergangenen Jahr bei 83,6 Prozent.
Die Einführung des Bürgergelds war ein Schritt in die richtige Richtung, vor allem weil es einen stärkeren Fokus
darauf legt, Menschen dauerhaft und in gute Arbeit zu bringen. Die größte Herausforderung bei den arbeitslosen Beziehern sind fehlende Qualifizierungen und gesundheitliche Probleme sowie die nach wie vor zu hohen bürokratischen Hürden, um Geflüchtete schneller und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Auch wenn das Bürgergeld richtige und kluge Veränderungen umgesetzt hat, so braucht es weitere Reformen, um
mehr Menschen in Arbeit zu bringen und aus der Abhängigkeit vom Sozialstaat zu lösen. Was es nicht braucht, sind populistische Debatten, in denen verletzliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Leider wird dieser
Populismus auch von Politikern demokratischer Parteien allzu gerne geschürt, um im Wahlkampf zu punkten.
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