Meinungen und Fakten:
Hauptstadt Radar
des RND (Redaktionsnetzwerk Deutschland) heute von Frau Eva Quadbeck 17.4.2025 per E-Mail erhalten
Liebe Leserin, lieber Leser,
den Koalitionsvertrag haben Sie wahrscheinlich nicht ganz gelesen. Das macht nichts. Im Gegenteil:
Die gesamte Lektüre lässt einen eher ratlos zurück. Er ist detailversessen und regelt vom künftig noch zulässigen Gewicht von Paketen (20 Kilo) über die Beschallung von Sommerfesten in Kindergärten bis
hin zu steuerlichen Anreizen für den Eintritt in eine Gewerkschaft wirklich alles.
Bei der Lektüre habe ich mich zwischenzeitlich gefragt, ob die Verhandler wirklich Zeile für Zeile gelesen
haben.
Politik muss sich auch mit den Details befassen. Aber ein Koalitionsvertrag ist eigentlich dafür da, eine gemeinsame Richtung und die dafür notwendigen Projekte vorzugeben. Und da hapert es. An vielen entscheidenden Stellen sind die Formulierungen so weich, dass sie einen nicht aufgelösten Konflikt
ummanteln. Schon um das Sondierungspapier gab es Debatten, was im Zusammenhang mit Zurückweisungen an den Grenzen die Formulierung „in Abstimmung“ mit den europäischen Nachbarn zu bedeuten hat.
Dazu haben Union und SPD gegensätzliche Ansichten. Exakt dieser Wortlaut hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden, ohne dass der Konflikt aufgelöst wurde.
Es bleibt viel Spielraum für Interpretation
Alle Versprechen und Vorhaben, die Geld kosten, stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Das ist
grundsätzlich richtig. Versäumt wurde aber, eine Priorisierung zu schaffen, was mit beschränkten
finanziellen Mitteln umgesetzt werden soll. Zwischen Vokabeln wie „werden“, „wollen“ und „anstreben“
ist viel Spielraum für Interpretation, was besonders wichtig ist. Etwa so: Wahrscheinlich erhöht die
künftige Regierung erst die Pendlerpauschale, bevor eine deutsche Astronautin oder ein deutscher
Astronaut zum Mond fliegt.
Eine gemeinsame Richtung kann man aus dem Vertragswerk nicht herauslesen. Es ähnelt eher einer
Kram-Schublade, wie sie sich in jedem Haushalt befindet: Darin liegt Wichtiges und Unwichtiges,
Einzelteile, von denen man nicht so genau weiß, wohin sie gehören und Gegenstände, von denen man
nicht weiß, ob man sie überhaupt braucht.
Nüchterne Darstellung statt Erneuerungswillen
Stilistisch haben sich Union und SPD von der Ampel deutlich abgesetzt. Während SPD, Grüne und
FDP 2021 ihre gemeinsame Regierungszeit mit einem Feuerwerk an Erneuerungswillen,
Fortschrittsglauben, Selfies und anderer Inszenierung starteten, gaben sich Christ- und
Sozialdemokraten betont nüchtern. Selfies und Social-Media-Aktivitäten waren während der
Verhandlungen sogar tabu.
Auch sprachlich zeigen sich die künftigen Koalitionäre bescheiden. In Teilen führt das zu wohltuend
kurzen, klaren Sätzen wie etwa in der Präambel des Koalitionsvertrags. Beispiel: „Wir verstehen das Wahlergebnis als Auftrag für eine umfassende Erneuerung unseres Landes.“ In diesem einen Satz
drücken Union und SPD aus, dass es darum geht, durch die konkrete Lösung von Problemen das
Vertrauen in die Demokratie wieder zu stabilisieren.
Leider bleibt viel in dem Vertragswerk hinter dieser so wichtigen Erkenntnis zurück. In Teilen ist das
144-Seiten-Papier auch schlicht schwer zu verstehen – sogar für Leute, die sich täglich mit Politik
befassen. In dem Kapitel, in dem es um Wirtschaftswachstum und Arbeit geht, wimmelt es von
Abkürzungen, die nirgends erklärt sind. Beispiel: „Deutschland beteiligt sich am IPCEI Med4Cure.“
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass dieser Satz aus dem Zusammenhang gerissen ist.
Im Kontext erschließt sich immerhin, dass es um europäische Beihilfeverfahren geht.
Nicht immer hilft es, sich den Zusammenhang anzuschauen. So findet sich auch die Aussage:
„Gebrochene Erwerbsbiografien und Abwanderung gehörten für viele Menschen zu den Folgen des Zusammenbruchs der maroden DDR-Wirtschaft nach 1990.“ Der Satz steht einfach ohne weitere
Erläuterungen zwischen einem Prüfauftrag zur Grundsicherung im Alter und dem Vorhaben, den
Grundsatz „Prävention vor Reha und Rente“ zu stärken.
Eine beruhigende Botschaft habe ich in dem Sammelsurium schließlich auch gefunden. Zeile 1866:
„Gesetze, Verordnungen und Regelungen, die nicht gemacht werden müssen, werden wir nicht machen.“
Ich finde das gut, das ist richtig gut, weil es ist genau mein Ding.
Carsten Linnemann CDU-Generalsekretär Unter anderem mit diesen Worten begründet CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann seine Entscheidung nicht Wirtschaftsminister werden zu wollen, sondern seinen Job als Generalsekretär fortzuführen.
Drei Interpretationen lässt der Verzicht zu: 1. Linnemann traut sich das Amt nicht zu. 2. Er sieht, dass sich mit diesem Koalitionsvertrag der von ihm geforderte und versprochene Politikwechsel nicht machen lässt.
3. Linnemann möchte weiter vor allem zugespitzt CDU pur fordern. Möglicherweise ist es auch eine Mischung aus allen drei Punkten. Seinen Lieblingssatz Satz „Einfach mal machen“ muss er künftig etwas vorsichtiger nutzen.
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
Der Trend, nach dem die Werte von Union und SPD sinken und die Zustimmung zur AfD zunimmt, ist laut Meinungsforschungsinstitut Forsa vorerst gestoppt. „Um die aufkeimenden optimistischen Erwartungen
nicht zu enttäuschen, sollten sich die beiden zukünftigen Regierungsparteien vor allem um die Interessen
und Probleme der großen Mehrheit der über 50 Millionen Wahlberechtigten kümmern, die die AfD nicht
gewählt haben”, meint Forsa-Chef Manfred Güllner und kritisiert „Anbiederungen an die AfD – wie jüngst von Jens Spahn”.
Newsletter vom 11.April 2025
Was der schwarz-rote Koalitionsvertrag für uns alle bedeutet, schreibt heute Campact-Vorstand Christoph Bautz.
Am Mittwoch habe ich erst einmal aufgeatmet. Endlich stand der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD. Denn von einem Scheitern hätte vor allem die AfD profitiert. In Umfragen liegt sie schon jetzt auf einem Allzeithoch von 24 Prozent.[1]
Wir alle können nur hoffen, dass Schwarz-Rot halbwegs passabel regiert
– und damit der AfD einen der Gründe für ihren Zulauf nimmt.
Doch wie ist der Vertrag aus progressiver Sicht einzuschätzen?
Und was bringt er für drei zentrale Themen von Campact: Klimaschutz, Agrarwende und den Schutz unserer Demokratie
und Zivilgesellschaft vor rechtsextremen Angriffen? Meine erste Analyse möchte ich gerne mit Dir teilen.
Der große Wurf fehlt
Der Koalitionsvertrag wäre eine echte Chance gewesen, autoritären Machthabern wie Trump, Putin und Xi etwas
Wirksames entgegenzusetzen: eine Vertiefung des europäischen Einigungsprojekts. Nur so werden wir in einer
Welt bestehen können, in der Regeln und Werte an Bedeutung verlieren und immer mehr das Recht des Stärkeren gilt.
Dafür würde es einen Bundeskanzler Merz brauchen, der an die proeuropäische Tradition der CDU anknüpft.
Der in der EU dafür streitet, die Verteidigungs-, Wettbewerbs- und Industriepolitik zu vergemeinschaften.
Der sich dafür einsetzt, dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen zu geben und im Rat das lähmende
Einstimmigkeitsprinzip zu überwinden. Und der mit gemeinsamen europäischen Anleihen und einer Besteuerung von
Superreichen ein großes Investitionsprogramm ermöglicht.
Doch solch mutige Zukunftsvisionen fehlen – bei Merz und im Koalitionsvertrag.[2]
Immerhin wird es eine große Veränderung geben. Die Koalition will per Sondervermögen investieren – in die Verteidigung,
in die marode öffentliche Infrastruktur und den Klimaschutz. Außerdem will sie die Schuldenbremse reformieren.
Die Entscheidung ist richtig, der Zeitpunkt jedoch katastrophal.
Wahlkampf hat Merz noch mit der Schuldenbremse gemacht. Eine solche Wende stärkt die AfD. Zudem könnte das Geld
auch in teure Wahlgeschenke von CDU und CSU wie Mütterrente und Pendlerpauschale fließen.
Wenn es um die Ärmsten geht, lassen sich Union und SPD von den
Rechtsextremen treiben –
das war im Wahlkampf so und schlägt sich auch im Koalitionsvertrag nieder. Besonders die Union macht sie für
eine gefühlte Bedrohungslage und die schlechte wirtschaftliche Lage im Land verantwortlich. Die Konsequenz:
Das Bürgergeld wird abgewickelt, eine noch härtere Gangart gegen Migrant*innen eingeschlagen – und
ausgerechnet Geflüchtete aus der Ukraine erhalten künftig weniger Unterstützung. Das simuliert Handlungsfähigkeit,
löst aber keines unserer Probleme.
Klimapolitik: Klarer Plan fehlt
Auf dem Papier bekennen sich Union und SPD zu den Klimazielen. Gleichzeitig rudern sie bei allem zurück, was es braucht, um diese Ziele zu erreichen – vom Ausbau der Erneuerbaren bis zur Verkehrswende. Besonders bitter:
Schwarz-Rot will die Klimaziele nicht mehr aus eigener Kraft erreichen, sondern auch CO2-Einsparungen aus
anderen Ländern einkaufen. Deutschland würde sich so aus der Verantwortung stehlen.
Union und SPD behalten sich vor, die Ausbauziele für Windkraft zu senken und den Kohleausstieg zu verzögern.
Gleichzeitig wollen sie weitere Gaskraftwerke bauen und den Anlagen die umstrittene CO2-Speicherung erlauben.[3]
Statt auf Erneuerbare und mit Wasserstoff betriebene Kraftwerke zu setzen, schafft die neue Regierung eine
Infrastruktur, die uns auf Jahrzehnte von fossilem Gas abhängig macht.
Ähnlich sieht es im Gebäudebereich aus: Hier will die Koalition das Gebäude-Energie-Gesetz der Vorgängerregierung
abschaffen – und damit den Fahrplan für eine klimaneutrale Wärmeversorgung aufgeben.
Auch für den Verkehr fehlt ein klarer Plan.
Union und SPD wollen zwar die Bahn ausbauen und Elektromobilität erschwinglicher machen. Doch gleichzeitig
gibt es jede Menge klimaschädliche Anreize: kein Tempolimit, Erhöhung der Pendlerpauschale, weniger Gebühren
beim Fliegen und die Wiedereinführung der Steuerbegünstigungen für Agrardiesel. Immerhin bleibt das
Deutschlandticket.
Allerdings steigt ab 2029 nochmals der Preis – dabei müsste es eigentlich günstiger sein, um die Mobilitätswende
voranzubringen.
Landwirtschaft: Agrarwende rückwärts
Das Agrarkapitel trägt eindeutig die Handschrift der Union. Weniger Regulierung und viel Freiwilligkeit bei
Umweltauflagen – die konventionelle Landwirtschaft und die Agrarlobby jubeln.
Für Artenschutz und Klima werden die kommenden Jahre bitter.
Die neue Regierung will die bisherige Agrarförderung weiter zementieren. Von der profitieren vor allem industrielle Megabetriebe; das Höfesterben geht weiter.
Ein Ja zu wichtigen EU-Zielen – wie etwa der Pestizidreduktion
bis 2030 – fehlt.
Stattdessen sollen Insekten- und Pflanzengifte leichter zugelassen werden; eine Katastrophe für die Artenvielfalt.
Die Koalitionär*innen wollen außerdem die Stoffstrombilanz abschaffen. Die soll eigentlich Überdüngung verhindern.
Die Konsequenz: keine Reduktion der Schadstoffe in Böden und Trinkwasser.
Einzig beim Tierwohl gibt es ein paar Lichtblicke. Es wird mehr Geld für den tierfreundlichen Stallumbau geben
und auch für junge Bäuer*innen. Woher die Mittel kommen sollen, bleibt jedoch unklar.
Und an den Kern des Problems – zu viele Nutztiere insgesamt – wagt sich die neue Regierung erst gar nicht ran.
Zivilgesellschaft: Engagierte Vereine müssen (weiter) zittern
Eine lebendige Zivilgesellschaft ist entscheidend für eine funktionierende Demokratie.
Die Union hat aber schon im Wahlkampf gezeigt, wie wenig sie davon hält. Mit ihrer Kleinen Anfrage an die
damalige Regierung hat sie genau die Organisationen angegriffen, die sie für ihre Zusammenarbeit mit der AfD kritisiert hatten – darunter auch Campact. Jetzt übernimmt die CDU das Familienministerium und damit die Kontrolle über das Förderprogramm „Demokratie leben!“. Das finanziert Projekte, die sich für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren.
Unliebsamen Vereinen könnte sie nun die Gelder streichen. Leider hat sich die SPD darauf eingelassen.
Sie muss jetzt die Vergabe der Gelder überwachen und sicherstellen, dass die CDU ihre Macht nicht missbraucht.
Gerade weil die AfD immer stärker wird, muss die neue Regierung zivilgesellschaftliches Engagement stärken und
nicht schwächen – auch durch mehr Geld für das Programm.
Der gemeinnützige Status von Organisationen, die sich für unsere Demokratie engagieren, bleibt weiter angreifbar.
In der Vergangenheit hat die AfD das immer wieder ausgenutzt – indem sie Vereine beim Finanzamt angezeigt hat,
damit diese ihre Gemeinnützigkeit verlieren. Die Ankündigung, die Förderung von Demokratie und Menschenrechten
ins Gemeinnützigkeitsrecht aufzunehmen, sucht man im Vertrag vergeblich. Genauso wie die Klarstellung, dass
Vereine sich unbegrenzt politisch zu ihren eigenen Zwecken betätigen dürfen.
Immerhin: Für gemeinnützigen Journalismus wird es mehr Rechtssicherheit geben. Außerdem sollen mehr
Anliegen als gemeinnützig anerkannt werden. Dass dazu auch der Einsatz für Demokratie und für Menschenrechte
zählt – dafür müssen sich SPD und Länder in den kommenden vier Jahren weiter einsetzen.
Und trotzdem: Wir können einen Unterschied machen
Auf den 144 Seiten des Koalitionsvertrages stehen viele problematische Dinge – doch noch sind das
Absichtserklärungen und keine Gesetze.
Wie viel wir dennoch verändern können, zeigen einige Petitionen auf unserer Petitionsplattform WeAct.
Sie haben die Verhandlungen spürbar beeinflusst. So wie Indra Ghosh mit seiner Forderung, rechtsextremen
Hetzer*innen das passive Wahlrecht entziehen zu können, wenn sie wegen Volksverhetzung verurteilt wurden.
Mehr als 270.000 Menschen haben seine Petition unterschrieben – jetzt findet sich der Ansatz im Koalitionsvertrag.
Damit er konkret ausgestaltet wird, bleiben wir dran.
Erfolgreich war auch die Petition des Info-Portals Frag den Staat.
Die Union wollte das Informationsfreiheitsgesetz abschaffen; jetzt ist nur noch von einer Reform die Rede.
Dafür hat Frag den Staat auch schon einen konkreten Vorschlag. Einen weiteren Lichtblick gab es mit Blick
auf die Frage, wie sich soziale Medien regulieren lassen. Das war nämlich das zentrale Anliegen der WeAct-Petition
„Soziale Netzwerke als demokratische Kraft retten“ – und hat es in den Koalitionsvertrag geschafft.
Die Beispiele zeigen: Unser Engagement lohnt sich und bringt Veränderung. Mir macht das Mut.
Wo der Koalitionsvertrag Spielräume lässt, setzen wir uns in den vier kommenden Jahren ein – für Klimaschutz,
Menschenrechte, Demokratie, nachhaltige Landwirtschaft und soziale Gerechtigkeit.
Gemeinsam können wir viel verändern, davon bin ich überzeugt. Denn wir haben in der Vergangenheit gezeigt:
Auch unter konservativ geführten Regierungen ist Fortschritt möglich – vom Atomausstieg über das Klimaschutzgesetz und den Kohleausstieg bis zum Gentechnik-Verbot. In den nächsten vier Jahren sind wir
deshalb alle immer wieder gefragt, Rückschritte zu verhindern und Fortschritte zu erstreiten.
Christoph Bautz, Campact-Vorstand
[1] „Sonntagsfrage Bundestagswahl”, Wahlrecht Online, eingesehen am 11. April 2025
[2] „Verantwortung für Deutschland – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD”, SPD Online, eingesehen am 10. April 2025
[3] „Neue Groko verdoppelt Erdgasverstromung wieder”, Klimareporter Online, 10. März 2025
ZEIT ONLINE | Im Browser lesen
Fratzschers Verteilungsfragen
Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE
Gehört das Bürgergeld abgeschafft?
Es hält vom Arbeiten ab, und vor allem bekommen es Ausländer: Kaum eine Sozialleistung wird aktuell so
heftig diskutiert wie das Bürgergeld. Aber stimmen die Vorwürfe?
Eine Kolumne von Marcel Fratzscher
Wieder einmal ist eine hitzige Debatte zum Bürgergeld entbrannt: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann
will es Arbeitsunwilligen streichen. CSU-Chef Markus Söder beschreibt das Bürgergeld als "großen Fehler der Ampel".
Die AfD hetzt gegen das Bürgergeld, und die Bild-Zeitung skandalisiert die Kosten und die Tatsache, dass fast die
Hälfte der Empfängerinnen und Empfänger Ausländer sind. Daher ist es wichtig, die Fakten offen auf den Tisch zu legen, den Reformbedarf ehrlich anzusprechen und den Populismus falscher Argumente zu entlarven.
Mythos eins: Die wollen ja nicht arbeiten
Zu den Fakten: In Deutschland beziehen knapp 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld zur Abdeckung des Existenzminimums.
Ein erster Mythos ist die Behauptung, dies seien allesamt Menschen, die arbeiten könnten, aber nicht wollen.
Fakt ist, dass 1,8 Millionen, also ein Drittel, davon Kinder und Jugendliche sind. Hinzukommen mehr als zwei
Millionen Menschen, die dem Arbeitsmarkt nicht für (weitere) Arbeit zur Verfügung stehen. Darunter befinden
sich knapp 800.000 sogenannte Aufstocker, also Menschen, die sehr wohl arbeiten, aber mit ihrer Arbeit so wenig Einkommen erzielen, dass sie zusätzliches Geld vom Staat benötigen. Dazu zählen auch Menschen wie
Alleinerziehende, die Sorgearbeit und Beruf nicht unter einen Hut bekommen können, weil es beispielsweise an Betreuungsplätzen für ihre Kinder fehlt.
Von den 5,5 Millionen Empfängern bleiben also 1,7 Millionen Menschen, die arbeitslos sind und prinzipiell
arbeiten könnten. Ohne Zweifel ein erhebliches Potenzial für den Arbeitsmarkt. Die Kritiker haben also einen
wichtigen Punkt, wenn sie einfordern, dass der Staat dieses Potenzial besser heben muss – zugunsten von
Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Betroffenen selbst.
Aber auch von diesen 1, 7 Millionen verweigert nur eine kleine Minderheit die Arbeit. Für die große Mehrheit liegt
das Problem anderswo: Knapp zwei Drittel dieser Menschen haben keinen Berufsabschluss, in vielen Fällen noch
nicht einmal eine Schulausbildung, und die meisten haben gesundheitliche Probleme. Mit keiner noch so guten Unterstützung durch die Jobcenter und mit keiner noch so großen Motivation der Betroffenen kann das Hauptproblem
für deren Integration in den Arbeitsmarkt gelöst werden: Potenzielle Arbeitgeber stellen diese Menschen häufig nicht
ein, weil die Kosten und Risiken zu groß sind. Und wenn Arbeitgeber es doch wagen, dann passiert es allzu häufig,
dass die Betroffenen nach wenigen Monaten wieder in Arbeitslosigkeit und Bürgergeld landen.
Genau hier setzen einige Reformen und Weiterentwicklungen von Hartz IV zum Bürgergeld an: Menschen sollen
nicht per se so schnell wie möglich in irgendeine Arbeit kommen, sondern sie sollen in eine Arbeit kommen, die
ihnen eine realistische und dauerhafte Perspektive bietet. Der sogenannte Vermittlungsvorrang in Arbeit wurde abgeschafft, damit die Betroffenen die Chance haben, sich zu orientieren, zu qualifizieren und eine passende
Arbeit zu suchen. Das ist im Sinne aller: der Betroffenen, der Unternehmen und auch des Sozialstaats.
Mythos zwei: Arbeit lohnt sich nicht
Der Vorwurf lautet: Der Lohnabstand zum Bürgergeld ist nicht groß genug. Selbst hochrangige Politiker wie der
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann werden nicht müde, die Behauptung stets zu wiederholen, Bürgergeldbeziehende hätten am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche als arbeitende Menschen.
Die Behauptung ist schlichtweg falsch, denn auch Menschen mit Niedriglohn stehen Sozialleistungen zu und haben dadurch immer und in jeder Konstellation – von einem Single bis hin zu einer Großfamilie – mehr Geld als Menschen
im Bürgergeld. Dies zeigt eine Studie des ifo Instituts ebenso wie viele andere Studien.
Es lohnt sich, die Höhe des Bürgergelds einmal einzuordnen: Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher leben in Armut.
Sie gehören zu den knapp 13 Millionen Menschen in Deutschland, die unter der Armutsgrenze leben.
Es kann also keine Rede davon sein, dass sie in üppigen und großzügigen Verhältnissen leben.
Große Mehrheit in Kollektivhaftung
Auch die Behauptung, der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeitslohn sei kleiner geworden, ist falsch.
Seit Einführung des Mindestlohn 2015 sind die Einkommen im Niedriglohnbereich sogar etwas schneller angewachsen als die Bezüge im Bürgergeld. Und jeder, der sich mit der Berechnung des Bürgergelds auseinandersetzt, weiß
warum: weil die Berechnung des Bürgergelds an die Lohnentwicklung im Niedriglohnsektor gekoppelt ist.
Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht angemahnt: Es gehört zur Pflicht von Staat und Gesellschaft, alle Menschen mit einem angemessenen Existenzminimum auszustatten.
Mythos drei: Eine große Gruppe verweigert Jobangebote
Um dies klar zu sagen: Es gibt durchaus Menschen, die Sozialbetrug betreiben und Bürgergeld beziehen, aber gleichzeitig Jobangebote ablehnen oder sich Leistungen erschleichen. Dies darf ein Staat nicht akzeptieren, er
muss mit aller Konsequenz des Gesetzes dagegen vorgehen.
Wie auch eine unserer Studien am DIW Berlin zeigt, bewerten Jobcenter-Mitarbieter insbesondere die Sanktionsmöglichkeiten beim Bürgergeld skeptisch. Die Mitwirkungspflichten der Bezieherinnen und Bezieher
sollten verbessert und die Sanktionsmöglichkeiten für Totalverweigerer gestärkt werden – was die Bundesregierung bereits umsetzt. Das fordern übrigens auch Bürgergeldbeziehende selbst.
Fakt ist jedoch auch, dass die Totalverweigerer eine kleine Gruppe sind: Gemessen an den Sanktionen sind das
etwa 16.000 von den 5,5 Millionen Beziehern. Dies sind 16.000 zu viel, aber sie sind mit 0,4 Prozent eben auch
eine verschwindende kleine Minderheit aller Bürgergeldbezieher. Auch daher ist der Populismus gegen Menschen im Bürgergeld so perfide: Es wird eine große Mehrheit in Kollektivhaftung für eine kleine Minderheit genommen und ihre legitimen Bedürfnisse dadurch delegitimiert.
Mythos vier: Vor allem arbeitsunwillige Ausländer erhalten Bürgergeld
Ein weiterer Punkt, der in der Kritik am Bürgergeld gerne angeführt wird, ist die Tatsache, dass heute fast die Hälfte
der Beziehenden aus dem Ausland kommt. Hierzu zählen auch die mehr als 1,1 Millionen ukrainischen Geflüchteten,
die nach Ankunft sofort arbeiten und notfalls Leistungen des Bürgergelds beziehen dürfen.
Laut Bundesregierung bezogen 722.000 Ukrainer im März 2024 Bürgergeld. Mehr als 200.000 davon sind jedoch
Kinder, knapp 320.000 sind in Ausbildung, Schule, Umschulung, Eingliederung in einen Betrieb oder sind Aufstocker. 186.000 ukrainische Geflüchtete gelten als arbeitslos.
Dies ist eine deutlich kleinere Zahl, als häufig kolportiert wird. Man muss sie nicht als negativ bewerten, sondern sollte
in ihr eine Chance sehen: Die große Mehrheit der Geflüchteten möchte arbeiten und sich in Deutschland integrieren.
Es gibt ein großes Potenzial für den Arbeitsmarkt, wenn durch den Abbau der vielen Hürden – von der Anerkennung
von Qualifizierungen, über rechtliche Hürden und Wohnsitzauflagen bis hin zu Sprachkenntnissen – Geflüchtete
schneller in Arbeit kommen. Es gibt viele Erfolgsgeschichten:
So sind beispielsweise 86 Prozent der zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland geflüchteten Männer (PDF) heute
in Beschäftigung– dies ist eine höhere Quote als im restlichen Teil in Deutschland: Die Erwerbstätigenquote der männlichen Bevölkerung zwischen 18 bis 64 Jahren lag im vergangenen Jahr bei 83,6 Prozent.
Die Einführung des Bürgergelds war ein Schritt in die richtige Richtung, vor allem weil es einen stärkeren Fokus
darauf legt, Menschen dauerhaft und in gute Arbeit zu bringen. Die größte Herausforderung bei den arbeitslosen Beziehern sind fehlende Qualifizierungen und gesundheitliche Probleme sowie die nach wie vor zu hohen bürokratischen Hürden, um Geflüchtete schneller und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Auch wenn das Bürgergeld richtige und kluge Veränderungen umgesetzt hat, so braucht es weitere Reformen, um
mehr Menschen in Arbeit zu bringen und aus der Abhängigkeit vom Sozialstaat zu lösen. Was es nicht braucht, sind populistische Debatten, in denen verletzliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Leider wird dieser
Populismus auch von Politikern demokratischer Parteien allzu gerne geschürt, um im Wahlkampf zu punkten.
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